Kapitel 22


Ein ganz privater Tag

Kürzlich war das i zum Adventskaffee bei einer Bekannten eingeladen.
Die Bekannte, die in einer Gründerzeitvilla wohnt, ist Rechtsanwältin und ihr Mann ist Unternehmensberater. Das i dagegen geht einem ganz gewöhnlichen Beruf nach und ist mit einem normalen Menschen verheiratet.
Auch stand das i bis vor wenigen Tagen noch kurz vor der Niederkunft, was es ebenfalls von seiner Bekannten unterscheidet, die niemals schwanger war und es vermutlich auch nie sein wird, denn ihr fehlt gewissermaßen die Waghalsigkeit, die man braucht, um einen solchen Schritt ins Unbekannte zu wagen. Dafür besitzt die Bekannte einen großen Freundeskreis. Alle Frauen in ihrer Umgebung, selbst ihre Putzfrau, bezeichnet sie als ihre Freundinnen, und das muss man ihr wirklich hochanrechnen!
Die Bekanntschaft der neuen Freundin hat das i vor noch nicht allzu langer Zeit jedoch nicht durch die Putzfrau gemacht, sondern durch einen Schlüsselbund, den die mit dem i neuerdings bekannte Rechtsanwältin auf der Straße verloren hatte, und den das i fand und den es, nachdem es auf einem angehängten Schildchen die Adresse gelesen hatte, bei ihr vorbeibrachte. Da allerdings platzte das i geradewegs in eine Party hinein, die gerade dort veranstaltet wurde, und weil die neuerdings bekannte Rechtsanwältin ehrlich erfreut und dankbar war, wurde das i auf einen Drink hereingebeten.
Gehen Sie auf Partys? Diese ganz privaten Partys, die so genannt werden, weil nur Auserwählte dort Zugang haben? Das i war zum ersten Mal auf einer solchen Party, und es hat ihm dort nicht sehr gut gefallen, weil die Gespräche, die dort geführt wurden, ihm zu süßlich – ja kann man sagen: schmeckten?
So oder so – vermutlich wird das i nicht mehr so schnell in den Genuss einer Party bei seiner neuen Bekannten kommen. Doch den Adventskaffee hat es noch mitgenommen, und der lief folgendermaßen ab:
Aus Gründen der Gemütlichkeit lädt Frau Rechtsanwältin in der Adventszeit an jedem Nachmittag jemanden ein, doch das i hat den Verdacht, dass sie die Qualität der Besucher mit der Zeit steigert, ähnlich einem Adventskalender, dessen verborgene Schätze mit der Zeit immer üppiger werden, bis dann am vierundzwanzigsten das Fach mit dem schönsten Innenleben geöffnet wird. Das i nämlich wurde am zweiten Dezember eingeladen (die Putzfrau, wie hinterher herauskam, am ersten), während zum Beispiel eine gemeinsame Bekannte, die sehr viel öfter auf private Partys geht, am fünfzehnten kommen darf, eine befreundete Richterin, die gleichzeitig auch noch Stadträtin ist am zwanzigsten, und die Gattin des Bürgermeisters am dreiundzwanzigsten (und dazu noch abends!)!
Doch wir wollen nicht abschweifen. Und nichts läge ferner, als das i zu bedauern, das sich ganz allein und selbstverschuldet in diese Situation gebracht hat.
Begrüßt wurde es bereits am Eingang durch den Duft gebratener Äpfel, auch zogen die Schwaden einer Vanillesoße durch das Haus, was ihm allerdings fast den Atem nahm. Denn es liebt eher scharf gewürzte Speisen, was sich seit seiner Schwangerschaft, und seit dem Umstand, dass es das Rauchen aufgeben musste, noch verstärkt hat. Und in der Weihnachtszeit? Leider ist festzustellen, dass zu keiner Jahreszeit das i hin und wieder einen scharfen Schnaps nötiger hat als zu dieser süßen Plätzchen –, Stollen –, und Glühweinzeit. Überhaupt – kann man dem schwangeren i sein Völlegefühl verdenken? Weil aber das i um sein Ungeborenes besorgt war und weiß, was sich gehört, verzichtete es natürlich auf das Schnapssaufen während der Schwangerschaft. Doch stand der Bratapfelduft im hellen Gegensatz zu seinem Pflichtgefühl. Jedenfalls fühlte es sich schon satt, bevor es die Wohnung betreten hatte.
Die Bekannte hatte es sich selbst und ihrem Besuch gemütlich gemacht, wie sie überhaupt das Private überaus liebt. Auf den Tischen und in den Fensternischen brannten weiße Kerzen, leise klassische Musik erfüllte den Raum. Sie bewirtete das i mit Bratäpfeln und Vanillesoße, und dann sanken sie beide in die weichen Ledergarnituren.
„In der Weihnachtszeit ziehe ich mich gerne ins Private zurück“, lächelte die Bekannte honigsüß. „Du nicht auch?“
Was sollte das i darauf antworten? Wer zieht sich nicht gern ab und an ins Private zurück? Andererseits arbeitet das i ebenso wie sein Mann in derselben öffentlichen Einrichtung, und das i war zu seiner neuen Bekannten mit öffentlichen Verkehrsmitteln gekommen. Und sie sind auf die öffentliche Kindertagesstätte in ihrem Wohnviertel angewiesen, weil das i in ungefähr einem Jahr wieder arbeiten gehen will.
„In der Weihnachtszeit schon“, versicherte das i schnell. Doch es war ihm bereits schlecht geworden, und es schielte zur Schnapsbatterie, die der Mann der Bekannten auf dem Wohnzimmerbuffet aufgebaut hatte. Aber die Bekannte ignorierte den sehnsüchtigen Blick. Stattdessen sagte sie:
„Da du ja keinen Alkohol trinken kannst, habe ich extra für dich einen Kinderpunsch gekocht. Na, Appetit ?“
Unter diesen Worten war sie aufgestanden, um dem i aus einer mit Rosen bemalten Teekanne eine rote, dampfende, süß duftende Flüssigkeit in eine mit Rosen bemalte Tasse zu gießen.
Das i war so satt. Ihm quoll bereits die Vanillesoße zum Mund heraus, und es konnte nur stumm mit dem Kopf nicken. Es hoffte, mit dem heißen Gebräu die Soße wieder hinunter würgen zu können, doch als es die Tasse zum Mund hob, machte sein Kind einen enormen Satz, als wehrte es sich. Das Ärmste! Das i hatte Mitleid mit ihm und setzte die Tasse wieder ab.
„Ha … hast du eine Knoblauchzehe?“, fragte es mit zusammengebissenen Zähnen.
Aber die Bekannte konnte die Frage nicht verstehen, da das i sie zu leise gestellt hatte. Nun setzte sie sich zum i auf die Couch und begann zu plaudern. Sie ist sehr taktvoll, die neue Bekannte, daher erzählte sie nur kurz von der kleinen, aber gut gehenden Anwaltskanzlei, in der sie halbtags zu arbeiten pflegt, und nur kurz von dem kleinen, ganz privaten Chalet in der Schweiz, wo sie und ihr Mann Silvester verbringen würden. Daraufhin fragte sie gleich:
„Was habt ihr an Silvester vor?“
„Ich hoffe, dass ich diese Tage nicht im Krankenhaus verbringen muss“, antwortete das i.
„Ich kenne da eine ganz private, kleine Klinik“, begann die Bekannte. „Sie liegt auf dem Land, aber …“
„Wir gehen zur Geburtsvorbereitung in die städtische Frauenklinik“, unterbrach sie das i.
„Ach die“, schwadronierte die Bekannte, „die arbeiten dort ja so ineffizient! Du weißt ja, die Firma meines Mannes hat sich auf die Beratung von Krankenhäusern und öffentlichen Einrichtungen spezialisiert. Mein Gott, diese Ineffizienz! Hier müsste privatisiert werden. Die Steuergelder, die dort verschwendet werden. Man wird mit dem eisernen Besen durchkehren!“
Das Kind boxte, als übe es schon, und das i erhob sich, um ihm bei seinen Übungen mehr Platz zu geben.
Nun ging es dem i etwas besser, und es begann langsam auf und ab zu schreiten. Dann tat es so, als bliese es gedankenverloren eine Kerze aus, dabei wollte es nur den süßen Vanilledampf mit einem anderen Geruch ein wenig entschärfen. Es beugte sich über den Kerzenqualm und atmete gierig den Paraffingestank ein.
Hatte das i vergessen, der neuen Bekannten zu erzählen, wo sein Mann und es selbst arbeiteten? Diese Frage hat es die ganzen letzten Tage beschäftigt.
Denn nun stellte sich heraus, dass die Bekannte keinen Zugriff zur Schnapsbatterie benötigte, um in Rauschzustände zu geraten.
„Ineffizienz …“, quoll es wie süchtig aus ihrem Mund und floss gleich Kaskaden aus Vanillesoße plätschernd und klebrig zu Boden, „Deregulierung …, Missstände …, notwendiger Arbeitsplatzabbau …“, spinntisierte sie, „Prüfstand …, Privatisierung“, und dann:
„Als nächstes ist das … an der Reihe“, und sie nannte den Arbeitsplatz des i und seines Mannes.
„Aber“, fuhr sie fort, und erhob sich ebenfalls, „du bist ja ganz blass geworden. Setz dich doch wieder, oder nein, besser, nimm noch ein paar Löffel von meiner Soße mit echter Bourbonvanille.“
Bevor das i etwas erwidern konnte, hatte sie schon ein Schälchen gefüllt und näherte sich mit der gelben Pampe bedrohlich seinem Gesicht. Der Pudding schwabbelte, und der süßliche Gestank zog unerbittlich seine Nase hoch. Die Bekannte hob den Löffel, die Soße tropfte und die Tropfen blubberten im gelben Matsch.
Süß lächelte die Bekannte, und der Löffel kam immer näher.
Da geschah es. Sein Kind half ihm. Aber ach, wie quälte sich das i zuvor, wie übel war ihm! Es wusste sich nicht zu helfen. Dann der heftige Stoß in den Magen – verzweifelt presste es den Mund fest zusammen. Aber weder die Bekannte noch das i hatten mit dem Baby gerechnet, das, offensichtlich empört, sich plötzlich entschlossen hatte, mit einem energischen Fußtritt die Fruchtblase zu durchstoßen um seiner Mutter beizustehen. Denn plötzlich ergoss ein Schwall warmen, rötlichen Wassers sich über die Beine des i und bildete eine Pfütze auf dem weißen, weichen Berberteppich der Bekannten. Immer noch hielt das i tapfer seinen Mund verschlossen. Doch die Pfütze auf dem Boden vergrößerte sich mehr und mehr, wurde rot und röter, und nun ergoss sich das Wasser in einer langen Spur auf dem Boden, denn das i war in seiner Not zum Schnapsschrank gewankt, an dem es sich nun festhielt.

Das Kind kam effizient und in privatem Kreis in der städtischen Frauenklinik zur Welt. Und als das i wenige Tage später nach Hause kam, sagte es zu seinem Mann.
„Ich muss dir etwas erzählen. Aber zuvor solltest du dir und mir einen Schnaps einschenken.“

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