Kapitel 15


Heia Safari

Nach diesem unrühmlichen Ausflug in die wirkliche Welt des Wahns, beeilte sich das i natürlich, wieder in irgendeinen Traum zurückzufinden, egal in welchen. Doch das gestaltete sich schwieriger als gedacht, denn die Haut des i juckte so entsetzlich, dass es unaufhörlich seinen Körper an den verschiedensten Stellen kratzen musste und es daher unmöglich war, einzuschlafen. Außerdem hatte man das i tatsächlich in ein Krankenhaus gebracht, und ständig kamen Ärzte und Krankenschwestern angerannt, die das i einsalbten, umbetteten, Krach machten, nach seinen Wünschen fragten usw. Ja, das i war in ein sehr fürsorgliches Krankenhaus geraten! Eine Krankenschwester wollte es sogar an ein Sauerstoffgerät anschließen, was gerade noch in letzter Sekunde von einem hinzueilenden, umsichtigen Arzt verhindert werden konnte. Doch in einem unbeachteten Moment klebte die überfürsorgliche Krankenschwester dem i rasch ein Morphiumpflaster auf die Brust, damit es, wie sie flüsternd auseinandersetzte, besser atmen könne. Nun war das i zwar keineswegs wegen Atemproblemen in das Krankenhaus eingeliefert worden. Doch wenigstens fiel es nun in einen tiefen Schlaf und fand sich unversehens in einem merkwürdigen Traum wieder:

In der Abenddämmerung geht das i durch eine parkähnliche Landschaft. Die Luft ist frisch und feucht, durch die halb entlaubten Bäume streicht der Herbstwind. Kein Mensch ist zu sehen. Das i geht langsam, denn es hat nichts vor und sucht nach nichts. Und doch dreht es sich, während es so schlendert, von einer stillen und beklemmenden Furcht beschlichen immer wieder um und schaut nach hinten. Aber da ist niemand.
Plötzlich endet das lockere Gehölz, und das i tritt auf eine große, vom Abendlicht beschienene Lichtung. Die mit kurzem, sehr sauber geschnittenem Gras bedeckte Wiese steigt in der Ferne sanft und lieblich an, und auf dem freien Hügel sieht man einen prachtvollen Herrschaftssitz mit Säulen und zwei in schönen Bogen auslaufenden Freitreppen. Allerdings ist bereits aus dieser Entfernung zu erkennen, dass das mit grauem Schiefer gedeckte Dach an manchen Stellen schwarze, klaffende Löcher hat und am linken Flügel sogar gänzlich eingefallen ist. Alle Fensterläden sind geschlossen. Nah bei dem Haus und doch noch mitten im Park ist eine unregelmäßige kleinere Erhebung zu sehen, die jedoch noch undeutlich und nicht genau zu bestimmen ist.
Das i betritt einen mit feinem Kies bestreuten Weg und wendet sich nach rechts, weil es in dieser Richtung eine Allee aus Eichen sieht, die in geradem Weg zur Villa führt. Es kommt an einem Wegweiser vorbei, auf dem steht:
„Wannsee 4 km“
Aha, denkt das i, ich bin im Grunewald. Dann ist dies vermutlich die Grunewaldvilla des Industriellen M.
Von Herrn M. hat das i schon viel in der Zeitung gelesen.
Es geht auf der Allee entlang, raschelt mit den Füßen in dem vom Wind zu großen Haufen angewehten Eichenblättern und legt den Kopf in den Nacken. Von unten sieht das Geäst der Eichen schreckenerregend aus. Mannsdicke Äste ragen knorrig und krampfhaft verschlungen, wie um Hilfe flehende, hoch erhobene Arme eines Verzweifelten, in den rosaroten Abendhimmel. Das i schaut lieber nicht mehr nach oben. Als es weitergeht, und immer wieder vorsichtig durch die Baumstämme hindurch auf die Lichtung hinaus ins Freie späht, bemerkt es zu seinem großen Erstaunen, dass die unregelmäßige Erhebung, die von weitem nicht genau zu erkennen war, sich beim Nähertreten als ein mehrere Meter hoher Sperrmüllberg aus gestapelten Möbelstücken herausstellt, ein Sperrmüllberg, der umso erstaunlicher scheint, weil offensichtlich alle Möbel von kostbarster Beschaffenheit sind, antik und in noch einwandfreiem Zustand. Das i tritt durch die Baumstämme hindurch ins Freie, nähert sich dem Möbelberg und betrachtet nachdenklich die hoch aufgetürmten altertümlichen Bettladen, die mit rotem Kirschholz furnierten Barocktische, prachtvolle Stühle mit schön geschwungenen Beinen, hohe Sekretäre, mit Intarsien verziert, aus denen zum Teil die Schubladen herausgerutscht sind. Und wie es so steht und sich über die schönen Möbel wundert, hört es plötzlich aus der Ferne Stimmengewirr, es wendet sich um und sieht, wie sich auf der Lichtung eine Gruppe Menschen der verlassenen Villa nähert.
Schnell huscht das i zurück in die Allee und verbirgt sich hinter einer der Eichen.
Die auf der Wiese wandernde Gruppe besteht aus etwa zwanzig erwachsenen Menschen, vor allem Männer mittleren Alters. Natürlich sind auch einige Damen darunter. Vor allem eine gutaussehende Dame tut sich besonders hervor, als Schauspielerin leicht zu erkennen, da sie voraus geht und dabei auf bloßen Füßen theatralisch mehr tänzelt als schreitet, und zwar rückwärts, mit dem Rücken zur Villa, sodass die auf sie zugehenden Herren ihr ständig ins Gesicht sehen. In ihrer rechten Hand hält sie die roten Schlaufen ihrer hochhackigen Schuhe, schlenkert sie im Kreis und lächelt neckisch. Man sieht zwei Köche, unter ihren Riesenhauben gut versteckt, die jeweils ein Mädchen untergehakt haben mit denen sie plaudern und bisweilen laut lachen. Beide Mädchen haben weiße Hauben auf den hübsch frisierten Köpfen und tragen weiße, saubere Schürzen.
Drei betagte Herren in schwarzen Anzügen schreiten langsam an Gehstöcken inmitten der Gruppe und sondern sich dennoch von ihr ab, da die anderen zu ihnen Abstand halten. Einer der Betagten, ein hochgewachsener Herr mit wulstigen Lippen und stark hängenden Wangen, schielt nach den beiden Dienstmädchen in den weißen Schürzen, drückt lautstark und in wienerischem Akzent sein Verlangen nach der Hübscheren der beiden aus und greift auch manchmal mit seinem Arm in einer für sein hohes Alter überraschend schnellen Bewegung nach vorn, um sie in den Hintern zu zwicken oder ihr obszön zwischen die Beine zu greifen. Das i sieht deutlich den Schrecken des Mädchens, aber es hört auch, wie es von einem der Köche in ganz ruhigem Ton ermahnt wird, den adeligen österreichischen „Herrn Minister“ ja gewähren zu lassen!
Mehrere sehr selbstbewusst aussehende Herren in gesetzterem Alter scharen sich gehend um einen Herrn im dunklen Anzug, blauseidener Krawatte, Seitenscheitel im noch vollen, graumelierten Haar, in dem das i den Industriellen M. erkennt. Mit leichtem Spott betrachtet der Industrielle die vor ihm tänzelnde Schauspielerin. Sein Spott ist so fein, dass ihn die Schauspielerin mit höflichem Interesse verwechselt und sie beginnt, angespornt durch sein Lächeln, zu deklamieren. Und weil auch die Blicke der anderen Herren auf ihr ruhen, kommt sie so richtig in Fahrt und ruft mit heller Stimme, indem sie jede einzelne Silbe betont:
„Mein Aug lieh‘ Euren Blick, die Zunge lieh‘
Von Eurer Zunge Wort und Melodie.
Wär mein die Welt, ich ließ Euch damit schalten.
Nur Euch, ihr Männer …
Wollt ich mir vorbehalten!“
Aber im Gegensatz zu dem ihren ist das Interesse der Herren nur gespielt und dauert nur kurz, es ist nicht mehr als eine herablassende, beinahe gequälte Kenntnisnahme dieser Störung, die sie dennoch vornehm und mit einer ihnen eigenen blasierten Distanz und Nonchalance ertragen. Sie ziehen die Augenbrauen hoch, sie gehen langsamer, sammeln sich, ihre konzentrierten Mienen werden ernst, sie wenden sich einander höflich zu und senken die Köpfe. Sie vertiefen sich ins Gespräch, sogar ihr feiner Spott verschwindet.
Die Schauspielerin, eine große, schlanke Frau mit sehr schönem, kastanienbraunem Haar verstummt und schaut unsicher vom einen zum anderen. Sie greift in ihr Handtäschchen, zieht rasch einen kleinen, runden Handspiegel hervor, klappt ihn auf und schaut prüfend hinein. Nichtsdestotrotz deklamiert sie krampfhaft weiter:
„Ich seh‘ mit dem Gemüt, nicht mit den Augen,
und mein Gemüt kann nie zu einem Urteil taugen.“
Irgendwann heben die Herren wieder die Köpfe und richten ihre Blicke auf die Schauspielerin und nun ist es, als erholten sie sich mit diesen Blicken von ihren ernsten und wichtigen Gesprächen, indem sie wieder Gefühle zulassen können, Gefühle der Herablassung, des Spottes und der wechselseitigen Zusicherung, dass sie selbst alle gleich und gut, die Frau aber anders und schlecht sei.

Weniger staatsmännisch als die distinguierten, seitengescheitelten Industriellen und die konservativen Regierungsbeamten von Adel an der Seite des österreichischen Ministers, sind die Banker, die selbstverständlich in dieser Gruppe nicht fehlen dürfen. Das i erkennt sie sofort, denn sie sind zwar gut, aber nicht so vornehm gekleidet wie jene, ihre Gesichter sind feister und sinnenfroher, ihre Bewegungen unverschämter.
Den Schluss der Gruppe bilden zwei junge Männer. Das i kann sich keinen Reim darauf machen, wer sie sein könnten. Sie sehen ganz normal aus, jung eben. Der eine von ihnen zieht ab und zu ein Feuerzeug aus der Hosentasche, lässt es in der hereinbrechenden Dunkelheit aufflammen und steckt es danach wieder ein.

Vor den Augen des i zieht die Gruppe vorüber und strebt, ohne an dem Möbelberg anzuhalten, auf die Villa zu. Dort bleibt man stehen, schaut nach oben, offenbar auf das schadhafte, auf der linken Seite eingestürzte Dach, um anschließend auf dem rechten Bogen der Freitreppe nach oben zu steigen, als wolle man bereits jetzt quasi für sich selbst andeuten, welchen Teil des Hauses man zu benützen gedenkt. Das i sieht, wie der Hausherr, der Industrielle M., das Portal aufschließt, höflich stehenbleibt, um allen anderen den Vortritt zu lassen, zum Schluss selbst das Haus betritt und die Türe hinter sich zuzieht.

Was soll das i tun? Es ist ja durch den Park geschlendert, ohne irgendetwas vorzuhaben, ohne irgendetwas zu suchen. Andererseits wird ihm im abendlichen Park immer ängstlicher zumut. Also huscht es zwischen den Bäumen hindurch, sehr bemüht, nicht aufzufallen, gelangt zur Treppe, rennt mit klopfendem Herzen nach oben, steht vor der Tür und drückt die Klinke nach unten. Die Tür öffnet sich leise knarrend und das i tritt ein.
Es steht in einer großen, sehr hohen, dunklen Halle. Durch eine mächtige Fensterfront auf der gegenüberliegenden Seite fällt noch etwas Dämmerlicht, und zwei Freitreppen sind zu sehen, die gutsherrlich und pompös weit in den Raum hineinragen. Im Gegensatz zu den sich öffnenden Treppen vor dem Haus, schließen sich diese beinahe in einem anmutigen Rund, sodass die Treppensockel einander gegenüber stehen. Zwischen den beiden Sockeln steht, in Ermangelung eines Tisches, eine brennende Kerze auf dem Boden.
In der Halle ist es eisig kalt, das i fühlt, wie einsam es ist.
Auf einmal hört es Stimmen. Eine männliche Stimme verlangt etwas in barschem Befehlston, Schreie ertönen. Mit schnellem Griff reißt das i die Kerze an sich und betritt, ohne nachzudenken, den rechten Teil der Treppe. Immer schneller läuft es nach oben. Es gelangt auf eine Galerie, deren ursprünglich schönes, aus dunklem Holz gedrechseltes Geländer an vielen Stellen durchbrochen ist. Viele Türen schließen sich an. Langsam, die gewölbten Hände schützend um das Kerzenlicht gelegt, schleicht das i die Galerie entlang. Endlich gelangt es zu einer Tür, hinter der leises Schluchzen zu hören ist. Dann eine befehlende, männliche Stimme:
„Kusch dich!“
Das i, das einsam ist, das nichts vorhat und das nicht nachdenkt, stellt die Kerze behutsam auf den Boden, öffnet langsam und vorsichtig die Tür, schlüpft leise wie ein Schatten in den Raum, wo es sich sogleich, umhüllt von Dunkelheit, gegen eine Wand drückt.
Da steht, beleuchtet vom Schein einer billigen, auf den Fenstersims geklebten Kerze, in einem vollkommen kahlen Zimmer der alte, adelige österreichische Minister, im geöffneten Mantel, unter dem sein schneeweißes Hemd hervorleuchtet. Das Hemd ist aus der Hose gerutscht, in der einen Hand hält der Minister seinen Gürtel, in der anderen den Gehstock. Vor ihm kniet auf dem Boden das Hübschere der beiden Dienstmädchen. Es ist, bis auf die weiße Haube im blonden Haar und der weißen, Brüste und Bauch umschließenden Schürze, nackt.
„Putz!“ herrscht der Minister und schlägt nicht stark, dafür aber sehr rasch hintereinander mit seinem Stock auf die Schenkel des Mädchens. Das Mädchen schluchzt auf und kriecht auf allen Vieren
vorwärts. Erst jetzt sieht das i, dass das Mädchen ein Tuch in der rechten Hand hat.
„Wisch in den Ecken!“ befiehlt der Minister in stark wienerischem Akzent und fährt fort sie anzutreiben, indem er mit seinem Stock ihren Hintern mehr genussvoll tätschelt, als schlägt. Das Mädchen rutscht auf dem Boden, wobei es mit der rechten Hand wischende Bewegungen macht, doch der Minister scheint nicht zufriedengestellt, denn mit weinerlicher Stimme fragt er:
„Hier sind doch noch Flecken, siehst du das denn nicht!“
Und plötzlich stößt er zornig mit dem Stock auf den Holzboden, wo seiner Meinung nach noch Flecken sind, schreit mit heiserer, sich überschlagender Stimme das Wort „Negersau“ dreimal in die kalte, dunkle Luft, holt aus, peitscht mit dem Gürtel, stößt den Stock nach vorn und zielt dem Mädchen mit Wucht zwischen die Beine.
Das Mädchen schreit laut und kippt nach vorn. Das i fühlt noch mehr, wie einsam es ist. Schnell und leise öffnet es die Tür und witscht wieder hinaus.
Rasch nimmt es die Kerze und eilt in fliegender Hast die Galerie entlang und dann die Treppe hinunter.
In der leeren Halle ist es jetzt noch dunkler geworden. Das i steht, wartet, lauscht. Wieder hört es Stimmen, von weit her. Diesmal ist auch Gelächter dabei, auch klappern, mal leise, mal lauter, Töpfe, dann kommt es dem i so vor, als zische Fleisch in einer Pfanne.
Das i wendet sich nach rechts und geht dorthin, wo es die Geräusche vermutet. Doch nach wenigen Schritten bleibt es stehen.
Die Luft ist auf einmal sehr warm, stickig, das i beginnt zu schwitzen, es mag gar nicht mehr weitergehen. Drückend, alt und verbraucht ist die Luft. Das Licht der Kerze beginnt zu flackern, wird kleiner, erlischt. Mit seinen Händen tastet das i blind die Wände entlang, die mit rauem Stoff tapeziert sind. Plötzlich hat es den kühlen, eisernen Griff einer Türklinke in der Hand. Das i drückt die Klinke nach unten und öffnet eine sehr schwere Flügeltür. Aber dahinter ist es noch schlimmer: stockdunkel, still, stehende, heiße, alles verschluckende Luft.
Das i bekommt Angst. Wer wohnt hier? Was ist es, das die Luft so furchtbar macht? Es glaubt sich verirrt zu haben, schnell und hastig schließt es die Tür. Nur weg hier!
Wieder hört es klappernde Töpfe. Das klingt nach Leben, und das i beschließt, trotz seiner Furcht weiterzugehen. Es gelangt in einen anstoßenden, langen Flur. In der Dunkelheit ahnt das i hohe, gewölbte Fenster, die in regelmäßigen Abständen in die rechte Wand eingelassen sind. Obwohl die Fensterläden geschlossen sind, spürt es die Nähe des Gartens. Das Gefühl des Eingeschlossenseins lässt nach. Das i atmet tief durch.
Mit einem Streichholz, das es Gottlob in seiner Hosentasche findet, zündet es die Kerze wieder an. Geleitet von ihrem Licht und stärker werdenden Küchendüften geht es einige Schritte. Da hört es wieder Gelächter, auch flackert ein Lichtschein die Wände entlang, huscht fort und taucht wieder auf. Hm. Was ist das jetzt, woher kommt das Licht? Das i setzt die Kerze auf den Boden, öffnet eines der Fenster, stößt vorsichtig den Laden auf und lugt hinaus. Draußen auf dem hellerleuchteten Kiesweg stehen die beiden jungen Männer, die zuvor den Schluss der Gruppe gebildet haben, mit brennenden Holzfackeln in den Händen. Das i sieht, wie sie miteinander sprechen, dann trennen sie sich und beginnen noch mehr hohe Fackeln zu entzünden, die sie offenbar zuvor rund um die Freitreppe und an den Parkwegen entlang in den Boden gesteckt haben. Bald wird es hell um das Schloss, die Kieswege leuchten schön und die Marmorwände werfen den hellen Glanz in den Garten zurück.
Ohne den Fensterladen wieder zu schließen, schleicht das i weiter den Flur entlang. Die Luft wird wärmer, doch nicht stickig, sie duftet angenehm nach Essen. Endlich kommt es zu einer weit geöffneten hölzernen Tür. Es schaut um die Ecke und sieht direkt in eine große, durch viele Kerzen erleuchtete altmodische Küche hinein.
Das ist eine Küche ohne Tische und ohne Schränke. Feuchte, sehr heiße Luft weht heraus. Kupferne Töpfe und Pfannen hängen an den Wänden oder stapeln sich auf dem weiß gekachelten Boden. In der Mitte erhebt sich ein riesiger, bullernder Holzofenherd. Buchenscheite stapeln sich rechts und links der eisernen Herdwände, im geöffneten Feuerloch glüht es, der Herd kracht und summt. Ein großes, noch blutiges Stück Fleisch, eben in eine Pfanne ohne Deckel geworfen, schmort im Saft, weißer Dampf wabert zur Decke und sucht sich andere Auswege, zum Beispiel zur Tür hinaus, wo das i steht und schnuppert. Einer der beiden Köche stochert in der Glut, schiebt Buchenscheite nach. Schweiß tropft von seiner Stirn und fällt zischend auf die glutheiße Herdplatte. Er richtet sich auf und beginnt, ohne das glühende Feuerloch zu schließen, aus einem auf dem Boden stehenden Drahtkorb mit spitzen Fingern große, krabbelnde, sich wehrende Hummer zu angeln und sie mit Schwung in einen Topf mit kochendem Wasser zu schmeißen. Ab und zu wirft er einen Blick auf andere Töpfe, in denen Kartoffeln, Kraut, Zwiebeln und rote Paprika braten. Der andere Koch ist dabei, eine flügellahme, halb verendete Gans aus einem engen Käfig zu zerren, in dem sie wahrscheinlich ihr Leben gefristet hat und gestopft worden war. Etwas abseits hockt das weniger hübsche Dienstmädchen auf den Fersen und schneidet aus einem Block schneeweißen Käse in großen Brocken auf eine silberne Platte. Auf anderen silbernen Platten, die allesamt auf dem Boden stehen, liegen Fische, bereits gegart, blaue Forellen, ein riesiger Lachs, braun-rot und knusprig gebraten. Das Mädchen erhebt sich, holt eine Kelle mit siedender Butter und übergießt damit Forellen und Lachs. Einer der Köche sagt zu ihm:
„Geh hoch und deck die Tische, damit für die Herrschaften alles bereit ist.“
Das i wundert sich: wo können in diesem leeren Haus Tische stehen, an dem die Herrschaften speisen? Es beschließt, diese Tische zu suchen, dreht sich um, und geht den langen, durch den Widerschein der Fackeln erleuchteten Flur wieder zurück.
Da hört es das Gelächter wieder. Gespannt schreitet das i an den Türen entlang und legt an jede sein Ohr, um herauszufinden, woher das Gelächter kommt. Schließlich, als es schon fast wieder in der Halle ist, und es auch seine Kerze wiederfindet, die es dort auf den Boden gesteckt hat, scheinen hinter der letzten Tür Gelächter und Stimmen ziemlich laut zu sein. Das i öffnet diese Tür sehr vorsichtig und schlüpft hindurch.
Es gelangt in einen großen, vollkommen leeren Saal. Aber vorne, ebenfalls nur durch Kerzenschein erleuchtet, ist eine Theaterbühne zu sehen und darauf steht die Schauspielerin in den roten Stöckelschuhen mit einem gefüllten Champagnerglas in der hoch erhobenen Hand. Sie schüttelt ihr prachtvolles, kastanienbraunes Haar und mit ihrer hellen, exaltierten, jede Silbe betonenden Stimme spricht sie über das süße Lebensgefühl, das einen durchdringe, wenn man in einem solchen Anwesen wie diesem aufgehoben sei, wenn man sich beschützt fühle, wenn man reich sei und sich alles kaufen könne. Darauf trinkt sie das Glas in einem Zug aus und neigt sich in einer schwungvollen Geste nach der Seite, wo aus dem Dunkel zwei Männer treten. Das sind die Banker. Einer von ihnen hat eine Flasche in der Hand, mit der er ihr sogleich das Glas wieder füllt. Sie dankt ihm strahlend.
Bravo! Gut gespielt, denkt das i anerkennend.
Ein dritter Mann schwingt sich auf die Bühne und beginnt den Schauspielern auseinanderzusetzen, dass sie sich zwar in ihren Rollen zurecht gefunden hätten, dass man sich jedoch um die Fortsetzung des Theaterstückes noch intensivere Gedanken machen müsse. Das ist offenbar der Regisseur, denn die Schauspieler hören ihm mit aufmerksamen, ergebenen Gesichtern zu, und die Frau senkt auch den Kopf, lässt sogar das Champagnerglas sinken und umschließt es in einer züchtigen Gebärde mit ihren langen, beringten Fingern, dass es aussieht, als bete sie.
„Wir müssen“, fährt der Regisseur fort, „zeigen, dass man sich um die Zukunft keine Sorgen machen muss. Alles wird gut. Das ist unsere Botschaft, die wir zwar völlig unnötigerweise zum Thema machen, da sie selbstverständlich ist und unsere Zuschauer, die Herren Minister und Industrielle, dies genauso gut, wenn nicht noch besser wissen als wir. Aber da sie dies nun eben wünschen, und wir nun einmal in einer Welt leben, in der alles gut wird, ist es unsere Aufgabe, unser Theaterstück davon handeln zu lassen. Die Frage ist, woher wir einen Gegenspieler, einen Antagonisten nehmen?“
„Vielleicht einen Anteilseigner?“ schlägt einer der Banker mit zweifelnder Stimme vor.
„Nein“, entgegnet der Regisseur, „die Anteilseigner sind ja zufrieden, da die Dividende niemals unter vierzig Prozent rutscht.“
Der andere Banker schüttelt den Kopf und wirft ein, vierzig Prozent seien wenig, er kenne viele Anteilseigner, die unter sechzig Prozent nicht zufrieden seien.
„Fast immer sind es ja sechzig Prozent“, meint der Regisseur beschwichtigend.
„Also gibt es keinen Gegenspieler“, entscheidet die Schauspielerin.
„Dann“, sagt der Regisseur mit einer Stimme, die ausdrückt, dass er mit dieser Antwort sehr zufrieden ist, „dann bleibt euch nichts anderes übrig, als einfach nur euer Bestes zu geben. Ihr müsst umso besser spielen, da ihr mit eurem perfekten Spiel den Antagonisten ersetzen müsst, den es nicht gibt.“
Und die Schauspielerin erhebt wieder ihre hohe, gellende Stimme und deklamiert, alles sei gut, alles sei bestens, alles sei perfekt, weil die Dividende bei sechzig Prozent liege. Danach klopfen sie sich gegenseitig auf die Schultern, sind glücklich, weil alles gut ist, lachen und lassen den Champagner hochleben. Einer läuft hinter den Vorhang, um noch mehr Champagner zu holen.
Das i öffnet die Tür und will soeben wieder hinausschlüpfen, als es einen Schatten im Flur vorüberhuschen sieht. Es verharrt einige Sekunden und wartet, dann schleicht es leise hinaus.
Das war wohl das Dienstmädchen, das die Tische decken soll, denkt das i bei sich und es beschließt, dem Mädchen zu folgen. Es bückt sich, um die Kerze zu ergreifen, doch als es nach wenigen Schritten vorne in der Halle ankommt, ist alles so still wie zuvor, und kein Dienstmädchen zu sehen.
Vielleicht ist es hinter der schweren Flügeltür verschwunden, wo es vorhin so stockdunkel war, denkt das i. Jetzt, da sich der Schein der Fackeln auch in den Fenstern der Halle spiegelt, hat es die mit alten, brüchigen Gobelins tapezierte Türe bald gefunden. Es geht hin und drückt die Klinke nach unten.
Die Luft dahinter ist schwarz und verschlägt den Atem. Doch das i durchquert mutig und rasch, mit der flackernden Kerze in der Hand, den Raum, der vollkommen leer und ganz ohne Möbel ist. Es ist heiß, außerdem kommt es dem i so vor, als liege in der Luft ein feiner Geruch von Holzfeuer. Bald erreicht es eine weitere Tür, die ebenfalls zweiflüglig und noch schwerer als die erste zu öffnen ist. Doch schon als es diese Tür zu öffnen versucht, hört das i leises Stimmengewirr und Murmeln. Und wieder schlüpft es durch die halbgeöffnete Tür, und wieder drückt sich das i gegen die Wand, um unsichtbar zu bleiben.
Im Kaminzimmer tagen die konservativen Regierungsbeamten und distinguierten Industriellen über ihrer Kriegsplanung. Über große, massive Tische hinweg liegen Karten ausgebreitet und darum herum stehen die Herren und beraten. Der österreichische Minister in seinem Mantel, woraus sein blütenweißes Hemd leuchtet, fährt mit seiner blutig-roten Stockspitze auf einer Karte entlang, und es sieht aus, als zeichne er eine Landesgrenze. Dann sticht er mit einem Ruck in die Karte und sagt mit stark wienerischem Akzent und rollendem r:
„Heia Safari!“
„Und jetzt“, sagt der Industrielle M. und reibt sich die Hände, „und jetzt darf ich zum Abendessen bitten.“

Fluchtartig verlässt das i das Kaminzimmer. Es rennt durch den anschließenden, dunklen Raum, wobei es beinahe mit dem weniger hübschen Dienstmädchen zusammenstößt. Das i murmelt einige Worte der Entschuldigung, dann rast es, ohne sich umzudrehen und mit wehenden Gewändern durch die Eingangshalle hinaus ins Freie und die Treppe hinab. Dort brennen die Fackeln an den Parkwegen. Kies, Freitreppe, Marmorfassade, alles leuchtet im herrlichsten, romantischen, flackernden Feuerschein. Doch die festliche Idylle wird gestört durch unangenehmen Gestank. Es riecht nach Benzin. Das i wendet sich suchend um. Da sieht es einen der beiden jungen Männer, die zuvor den Schluss der Gruppe gebildet haben, einen der beiden, die im Garten die Fackeln entzündet haben, die beiden, die normal und jung aussahen und auf die sich das i keinen Reim machen konnte.
Er eilt die Treppe herab. In seiner Hand hält er schräg einen großen Kanister, er kippt ihn, Flüssigkeit läuft aus. Das i drückt sich gegen die Wand, folgt ihm mit den Blicken, der junge Mann rennt zum Sperrmüllberg, wo bereits der andere wartet. Gemeinsam schütten sie den Rest des Inhalts aus dem Kanister über irgendein Möbelstück. Einer lässt sein Feuerzeug aufleuchten. Das i macht, dass es weg kommt.

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