Kapitel 25


Im Pulk

Nach dem Krieg, in dem zuvor, wie graue Wanzen auf einer großen, löchrigen, glimmenden Landkarte, deutsche Generäle im Pulk nach Osten gekrochen waren, nach Westen, Norden und Süden, mit dabei ihre Handgranaten, Kanonen, Mörser und Schützenpanzer, die sie in Eisenbahnwaggons an die Front karrten, auf Protzen, auf rostigen Loren, magere Pferde davor spannten, deren Gerippe aus der Haut stach, die im Schnee stecken blieben, die sie verrecken ließen und weiterzogen, immer an die Front, immer an die Front! mit dabei auch ihr Zyklon B, mit dem sie Männer, Frauen und Kinder sofort zu töten trachteten, und es auch taten, sie wollten alle töten, alle wegmachen, alle in jenen Ländern, Millionen Kinder, Frauen und Männer – ihre Werkzeuge, mit denen sie die Baracken errichteten, ihre Abzugsrohre, die Backsteine für ihre Kamine, ihre Streichhölzer …, ihre Hanfstricke, mit denen sie die Bauern auf die Bäume knüpften, ihre Spießruten, durch die sie die Deserteure laufen ließen, ihre Gewehrkugeln, die über die Dächer der Hütten pfiffen und in die Küchen schlugen – Maschinengewehrfeuer, Kanonenprotzen, Kanonendonner, krachende Bomben, Granattrichter, Uniformen, Erschießungskommandos, verwesende Tote, Kadaver, lebendig Begrabene, Millionen Heimatlose, Niemandsland, Ausgehungerte, Verstümmelte und Zerfetzte, verirrte Kinder, Krieg! Krieg! Wo immer sie sind, die Generäle, sie sorgen dafür, dass Deutschland im Pulk nach vorn strebt, aber das Land zugleich nicht leer wird, sich nicht leert von den Mördern, sondern die zurückgebliebenen Mörder den Feldzug der Generäle zum Anlass nehmen, selbst noch mörderischer durchzugreifen, knallhart, auch füllen sie das Land wieder, mit Polinnen und Ukrainern, die sie geraubt und nach Deutschland entführt haben, weil diese dort, in Ermangelung der Pferde, deren Gerippe dreitausend Kilometer östlich oder westlich im Schnee oder Matsch verrotten, die Pflüge ziehen, auch in den Munitionsfabriken Nachschub produzieren müssen. Dann neue Schlachtfronten, Rückzüge und Siege, Blitzkrieg und Endsieg, Bombenhagel, Belagerungen, Hungersnöte, dann endlich Niederlage der Mörder und Befreiung. Nach dem Krieg also schwor sich einer der Generäle, der bei einem Heimaturlaub einen Sohn gezeugt hatte, sei es, weil die Niederlage ein Denkzettel war, sei es, weil ihm das Leben des Neugeborenen am Herzen lag, schwor sich jener General: Europa darf niemals mehr Schauplatz eines Krieges, niemals wieder Schlachtfeld werden!
Das i kann freilich nicht ahnen, dass damals diese Äußerung um die Welt ging, in den Zeitungen und Gazetten, und längst vergessen ist der Schreck und das tiefe Erbleichen aller, die auf allen anderen Kontinenten diese Drohung zur Kenntnis nehmen mussten. Das i liest nur die Tageszeitung, in der neulich eine Fotographie des Sohnes abgebildet war, jener Sohn jenes Generals, der natürlich selbst auch General geworden ist, zwar zeit seines Lebens arbeitslos, leider! (der Vater hatte geschworen), aber immerhin in der Zeitung gewürdigt, da er vor drei Tagen in den Ruhestand versetzt worden war.
Heute, an einem Samstag, machte das i am Vormittag eine Shoppingtour in der Stadt, in der es lebt, und kehrte dann zurück in seine Vorstadtsiedlung. Es ist Mai, um die Mittagszeit scheint die Sonne, und wie das i aus dem Bus steigt und auf der verkehrsberuhigten Straße unter blühenden Fliederbäumen nach Hause schlendert, die Einkaufstüten unterm Arm, während Kinder auf Fahrrädern an ihm vorbeischießen, kommt es an dem beliebten Caféhaus der Siedlung vorbei, der Gartenlaube. Das i hat Lust, hier Halt zu machen, sich zu setzen, die Einkäufe noch einmal durchzusehen, und dabei einen Cappuccino zu trinken und einen Bienenstich zu essen. Wie es um die Forsythienhecke biegt, die gelb blüht und leuchtet wie die Sonne, und die belebte Terrasse des Cafés betritt, sieht es schon Freunde und Nachbarn, die winkend auf sich aufmerksam machen und ihm fröhlich zurufen. Doch die Freunde sind so zahlreich, und ihr Tisch ist so voll besetzt, dass das i beschließt, einen anderen Platz zu suchen und zunächst in aller Ruhe die Einkäufe zu sortieren. „Später!“, ruft es durch die hohle Hand, lacht und deutet auf die Einkaufstüten. Es steht da und schaut sich suchend um. Die Luft ist erfüllt von Stimmengewirr und Kinderlachen, es duftet nach Kaffee, zwischen den mit weißen Tüchern gedeckten Tischen, um die sich Menschen drängen, schieben sich Kellner. Das Ambiente ist gemütlich und zugleich stilvoll. Die Möbel sind alt, jeder Tisch, jeder Stuhl erzählt eine Geschichte. Blühende Oleanderbäume in Terracottatöpfen umsäumen die Terrasse. Endlich erspäht das i einen freien Platz – an einem Mahagonitisch, an dem bereits zwei Herren sitzen, der eine jünger, der andere älter. Der Ältere trägt einen Anzug, der Jüngere Rollkragenpullover, dazu einen lässigen Sweater, Militarylook. Egal, Platz ist Platz.
„Darf ich?“, fragt das i höflich und erhält eine ebenso höfliche Antwort des älteren Herrn: „Bitte sehr!“
Die Gartenlaube ist bekannt für ihren exzellenten Cappuccino, offenbar wissen das auch die beiden Tischnachbarn, die soeben dabei sind, genüsslich Zucker in ihren Milchschaum zu rühren. „Der Kaffee hier ist einfach der Beste“, sagt der Jüngere mit Bassstimme und ermahnt dann ganz ruhig: „Nimm nicht so viel Zucker, Vater, der Arzt hat’s dir verboten.“
„Stimmt, man lebt nur einmal“, schmunzelt der Ältere und schaut lächelnd und mit Flirtmiene zum i, das eben den neuen schwarzen Lederminirock aus der Tüte fischt. Bei wem könnte ich mit diesem Rock wohl Eindruck machen, überlegt das i, während es aus den Augenwinkeln den jüngeren Herrn betrachtet. Bei dem nicht, entscheidet das i, er hat zu kurze Haare, gefällt mir nicht. Und der Ältere? Puh! Der hat ja Wulstlippen, noch schlimmer, sieht ja fürchterlich aus!
Das i hat zwei Seidenstrumpfhosen zum Rock gekauft, eine knallrote und eine buntgemusterte. Während es nach den Strumpfhosen tastet, ohne sie aus der Tasche zu nehmen, hört es, wie der Jüngere meint:
„Wenigstens haben sie von deiner Diabetes nichts geschrieben.“ „Wäre auch noch schöner gewesen“, konstatiert der Ältere.
„Hast du gesehen? Da waren einige, denen traut man nicht über den Weg.“
„Hauptsache, die können was Negatives schreiben!“
„Stechschrittpazifisten“, sagt der Jüngere langsam und trüb.
„Pack“, pflichtet der Ältere bei.
Der Cappuccino und der Bienenstich werden gebracht. Das i dankt und wirft dabei einen heimlichen Blick auf den älteren Herrn. Potz Blitz, das ist ja der General, der neulich in der Zeitung kam! Und der Jüngere neben ihm, denkt das i, ist wohl sein Sohn, wohl auch Soldat geworden. Hilfesuchend schaut das i hinüber zum Tisch mit den Freunden, aber da ist immer noch kein Platz, im Gegenteil, jetzt ist noch ein neuer Nachbar dazugekommen, der einen Stuhl über dem Kopf zum Tisch balanciert. Den Platz hätte ich mir auch angeln können, denkt das i trübsinnig, und fängt an, den blöden Nachbarn zu hassen. Da hört es den Jüngeren wieder, der mit seiner tiefen Stimme langsam sagt:
„Die glauben ans Brunnenbauen und ans Goetheinstitut.“
Er spricht stockend, zögernd, betont jedes einzelne Wort. Dass der Jüngere Soldat ist macht nichts, aber die Stimme ist unheimlich, er spricht zu langsam, die Stimme klingt gepresst, als würde etwas zurückgehalten, gehemmt, vielleicht ein Gefühl. Das ist diesem Soldaten bestimmt unangenehm, denkt das i, wer will schon gehemmt und zurückgehalten sein? Der will wohl bald losrennen, denkt das i.
Der ältere Herr nickt sybillinisch und starrt auf das i, während er in seinem Milchschaum rührt. Dem Jüngeren ist das i egal.
„Die Deutschen“, fängt er an, sich zu beklagen, „sind Drückeberger. Weltabgewandt. Bequem. Verweigern sich.“
„Vor allem gilt es, die Marine zu stärken“, belfert der Ältere und zwinkert dem i zu. Woher weiß er, dass ich Schiffe mag, fragt sich das i. Der Jüngere rührt auch in seinem Kaffee, denkt nach.
„Nicht so laut, Vater!“, mahnt er. Dann fügt er langsam und flüsternd hinzu:
„Wir brauchen Rohstoffe. Zukünftig importieren wir Wasser.“
Der Alte nickt zustimmend, hebt den Kaffee an seine Wulstlippen und schlürft, nicht nur zum Sohn, sondern auch zum i:
„Wo bleibt Deutschlands Rolle als potenzielle Führungsmacht?“
„Man wird Vorsorge tragen“, versichert der Sohn.
„Man wird im Pulk ausschwirren!“, freut sich der Alte.
„Habe ich dir eigentlich vom letzten Einsatz in Kundus erzählt?“ erkundigt sich der Jüngere, der nun doch einen Blick auf das i wirft. Doch das i hat sich gerade umgedreht und hält sehr sehnsüchtig Ausschau nach dem Tisch mit den Nachbarn.
„Soldaten“, fährt er mit feierlicher Strenge fort, „sind harte Knochen, das weißt du ja. Ehrungen, Einsatzmedaillen, Auszeichnungen, Urkunden, die sammelt man, sind aber nicht wichtig. Soll ich dir sagen, was wichtig ist?“ Er beugt sich vor, und während das i die Strumpfhosen entschlossen in die Tüte zurückstopft und einen letzten verzweifelten, aber vergeblichen Versuch macht, einen Platz am Tisch der Freunde zu erspähen, während die Kellner sich zwischen den antiken Tischen hindurch zwängen, die Sonne scheint, Kinder lachen und der Flieder duftet, der Oleander rosafarben und die Forsythien gelb blühen, erklärt der Soldat dem Vater, was wichtig ist:
„In Stellung gehen. Auf das Ziel feuern. Da bist du nur noch Adrenalin. Punktuell zuschlagen, möglichst hohe Verluste verursachen. In der Kampflinie funktionierst du nur noch. Der Rest ist Fingerübung. Der Mensch wird zur Silhouette, man sieht nur das Mündungsfeuer der Waffen. Der Puls rast. Fire and forget, wie die Robocops. Raketen, Panzerfäuste, Präzisionsgewehre, Handgranaten. Sprengstofffallen im Asphalt. Im Hochintensivgefecht zählt nur dein rechter und linker Flügelmann. Die kennen dich besser, als deine eigene Frau.“ „Angriffsoptionen“, fährt er hastig fort, „Aufklärungstechnik und AWACS! AWACS sind vor allem wichtig, Aufklärungsflüge wegen der Sicherheit, dann natürlich schnelle Einsätze. Wir gelten als zuverlässige Partner“, versichert er.
„Sturmhauben, Scharfschützen, schweres Maschinengewehr. Helikopter, Kommandosoldaten. Luftschläge und Detonationen, Bomberpiloten, Brandwaffen, Minen und Drohnen. Drohnen, eine interessante und vor allem humane Option. Überfällig! Embedded vom Schreibtisch aus. Nach dem Töten kommt das Plündern. Die Leichen haben wir auf Pick-ups geladen. Da war so manches zu finden. Die beiden Teppiche hast du ja gesehen. Einer liegt jetzt in Annikas Zimmer.“
Endlich, endlich steht der blöde Nachbar auf. Aber nicht, weil er weggehen will, sondern, weil alle aufstehen. Alle sehen nach dem i. Das i, in Ohnmacht gefallen, ist mit dem Stuhl nach hinten gekippt. Alles rennt, hastet, beugt sich über das arme i. Was hält es denn krampfhaft in der rechten Hand? Es ist nur eine buntgemusterte Strumpfhose.

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