Kapitel 26


Das i kannte einen Menschen, der sein Leben gut organisiert hatte. Sehr gut organisiert. Alles war geplant, alles war geregelt: Beruf, Politik, Privatleben. In dieser Reihenfolge.
An oberster Stelle stand für diesen Menschen natürlich der Terminkalender. Weil er Regeln und Gesetze über alles liebte war er Notar geworden, in seinen Arbeitsräumen war alles perfekt aufgeräumt: mächtiger Schreibtisch, stets sauber gespitzte Bleistifte, parallel aufgereiht, Grundbücher nach Alphabet geordnet in drei hohen Schränken, zu denen nur er die Schlüssel hatte. In seinen Terminkalender trug er ein, wann dieser oder jener gestorben war, welche Erbschaften darum verhandelt wurden, wann die Testamentseröffnung war usw. Grundstücksverkäufe wurden in den Terminkalender eingetragen, Besichtigungen vor Ort, Hofübergaben bei den Bauern, Entmündigungen, Treffen mit Angehörigen, usw., usw. Der Mensch machte seine Sache sehr gut, er war ein tüchtiger Notar.
Er liebte Regeln und Gesetze, da konnte es nicht ausbleiben, dass er sich für den Staat, dem er diente, auch privat engagierte. So trat er in eine Partei ein, bald wurden herausragende Posten an ihn herangetragen, schließlich wurde er Stadtrat. Zu einer größeren Karriere in der Politik konnte er sich wegen seiner Liebe zum Notarberuf nicht entschließen.
Doch auch in seiner politischen Funktion machte der Mensch seine Sache ausgezeichnet und es kam ihm zugute, dass er einen so guten und durchorganisierten Terminkalender besaß. Das i lachte nicht selten spitzbübisch in sich hinein, wenn es ihn dabei beobachtete, wie er, den Kalender auf den Knien, voller Wonne und Selbstzufriedenheit auf seine Termine sah, den Kalender ein wenig von sich weggeschoben, die Brille auf der Nase, den Blick bedeutsam, zärtlich, beinahe verschwörerisch in die Aufzeichnungen versenkt. Dann war er glücklich. Wie wichtig alles war und wie prall gefüllt sein Terminkalender! Wie er mit immer neuer Begeisterung Termine, die er bereits tausendmal gelesen hatte, ein weiteres Mal las. Er konnte einfach nicht aufhören, seine Termine zu lesen. Wichtig war ihm, dass er sie nicht alleine lesen musste. Dass andere beim Lesen dabei waren, das war überhaupt das Allerwichtigste!
Wie er froh war, nicht der Termine wegen, sondern weil sie so zahlreich waren und wegen des Glücks, sie aufschreiben, sortieren und mitteilen zu können. Wie er dann vor Bedeutsamkeit und Glück schier platzte, und wie er plötzlich, weil er es nicht mehr aushielt und sich mitteilen musste, mit dem Handrücken auf eine der aufgeschlagenen Seiten klatschte und mit vor Stolz geschwellter Brust rief:
„Da! Dritter September! Aufsichtsratstermin! Stadtwerke!“
Dabei kokettierte er oft mit dem damit verbundenen Stress und bemerkte nicht das Glück, das ihm, für jeden ersichtlich, aus den Augen sprang.
Gerne gestattete er dem i oder anderen Freunden und Bekannten Blicke in seinen übervollen Terminkalender. Und tatsächlich, die Seiten waren zum Bersten vollgeschrieben mit Stadtratssitzungen, Ortsterminen, Bürgersprechstunden usw.
Alles, alles schrieb der Mensch in seinen Terminkalender. Auch seine privaten Termine, die allerdings im Vergleich zu den anderen Leidenschaften (Beruf und Politik) einen eher geringen Platz einnahmen. Da stand dann „Einladung zum Essen beim OB“, „Vernissage in der Galerie soundso“, „Herr XY Frühschoppen“, „Besuch beim Arzt“, „Apotheke!!!“ usw., usw.
Eintragungen wie „Besuch beim Arzt“ und „Apotheke!!!“ begannen sich leider im Lauf der Jahre zu häufen, denn der Mensch wurde sehr krank. Er konnte nicht mehr richtig essen und magerte ab. Weil er so schwach und krank war, konnte er bald seine beruflichen und politischen Termine nicht mehr wahrnehmen, darum ließ er sich frühpensionieren und ging nur noch selten zu den Stadtratssitzungen. Doch das war nicht weiter schlimm, solange er seinen Terminkalender hatte, in den er seine anderen Termine schreiben konnte. Termine hatte der Mensch ja weiterhin, wie jeder Mensch. Das waren dann Termine wie „Herr XY anrufen“, „das i anrufen“, „Putzfrau kommt“ (sie kam jeden Donnerstag), „Fernsehsendung soundso“, „Kaffee kaufen“ usw. Der Mensch machte aus allem einen Termin. Zwar war er krank und mager, aber immer noch stolz, immer noch glücklich, wenn er in seinen Terminkalender sehen, zwischen den Seiten blättern und mit dem Handrücken draufschlagen konnte.
Er merkte gar nicht, wie krank er war. Wenn er rief: „Da! 14. November! Herr XY anrufen!“, dann lachte das i, aber nicht immer. Einmal weinte es auch.
Schließlich kam der Mensch in das Krankenhaus, wo er seinen dicken, prallgefüllten Terminkalender dicht neben sich auf sein Nachttischchen legte.
Zum Schluss kam der Mensch ins Hospiz, und die Pfleger wunderten sich über seinen prallgefüllten Terminkalender. Da stand dann mit krakeliger Schrift geschrieben: „Morphiumpflaster“, „Klistier“, „gestern Besuch von Herrn XY“, „ab morgen künstliche Ernährung“ usw.
Das i, das ihn im Hospiz besuchte, riet ihm, er solle für den nächsten Dienstag eintragen: „Tod“.
Ob er es tatsächlich eintrug, konnte das i nicht mehr in Erfahrung bringen, da es vor Dienstag keine Zeit mehr hatte, den Menschen im Hospiz zu besuchen. Und nach dem Dienstag hatte der Terminkalender keine Bedeutung mehr und wurde weggeworfen.
Denn der Mensch ist tatsächlich am Dienstag gestorben. Ist das nicht lustig?

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